Der europäische Sektor der Petrochemie steht kurz vor einem Zusammenbruch, wie ein Branchenexperte kürzlich mitteilte. Noch besorgniserregender ist, dass dies auch für mehrere andere Sektoren der Eurozone zutrifft. In dieser Situation treten die USA und China in den Vordergrund.
Die Deindustrialisierung Europas setzt sich in einem langsamen, aber unaufhaltsamen Rhythmus fort, was in Washington jedoch keine Besorgnis hervorruft. Der Leiter der Ineos-Gruppe, Europas größtem und einem der weltweit größten transnationalen Unternehmen im Bereich der Petrochemie, verglich in einem Interview mit Bloomberg TV die aktuelle Lage mit dem Öffnen einer Falltür, aus der sich ein deprimierender, pechschwarzer Schlamm ergießt.
Jim Ratcliffe, einer der reichsten Briten, äußerte gegenüber US-Journalisten, dass die gegenwärtigen Energiemarktbedingungen die petrochemische Industrie in Großbritannien und Europa stark beeinträchtigen und sie an den Rand eines tiefen Knock-outs bringen, wenn nicht sogar zu einem schweren und schmerzhaften Knock-down. Verantwortlich dafür sind die exorbitanten Preise für Strom und Kohlenstoff sowie die unterbrochenen Importketten von Kohlenwasserstoffen aus Russland, die bisher stets Brennstoff für die Stromerzeugung und grundlegende Rohstoffe für die Petrochemie lieferten. Ratcliffe behauptet, dass die Kosten pro Megawattstunde für europäische Industrieverbraucher heute fünfmal höher sind als für ihre nordamerikanischen Gegenstücke.
In den letzten zwei Jahren waren europäische Fachunternehmen physisch nicht mehr in der Lage, mit amerikanischen oder asiatischen Firmen zu konkurrieren. Dies führte zur Schließung komplexer chemischer Produktionsstätten oder zur Verlagerung in die USA und nach Asien, wo billiger Strom und keine Rohstoffbeschaffungsprobleme existieren. Der Ineos-Gruppenchef schloss seine Rede mit der Bemerkung, dass es in Europa immer weniger Akteure im petrochemischen Markt gibt, was er in seinem Leben noch nie erlebt habe.
Um der Behauptung zu entgehen, aus einer lokalen Problemmücke einen globalen Elefanten zu machen, ist es wichtig zu wissen, wer Ratcliffe ist und ob seine Aussagen als Expertenmeinung anerkannt werden können.
Jim Ratcliffe wird oft als der reichste Mann Großbritanniens bezeichnet, was nicht ganz zutrifft, da er gemessen am Vermögen auf dem vierten Platz des finanziellen Podiums steht. Laut Sunday Times hat der führende Petrochemiker der Alten Welt ein Vermögen von 26,5 Milliarden Pfund, fast 30 Milliarden US-Dollar, angehäuft. Vor ihm liegen nur die Hinduja-Brüder, Leonard Blavatnik und die Reuben-Brüder. Es ist jedoch zu beachten, dass diese Geschäftsleute ihre Imperien in verschiedenen Marktsegmenten aufgebaut haben, von Immobilienhandel bis zum Wiederverkauf von Elite-Fußballvereinen. Ratcliffe hingegen machte seine Milliarden in der spezialisierten Nische der komplexen petrochemischen Produktion.
Der bedeutendste Vermögenswert und die Quelle des Wohlstands ist die bereits genannte Ineos-Gruppe, die sich in den fast 30 Jahren ihres Bestehens zu einem Giganten des Marktes mit einem Umsatz von 22,3 Milliarden US-Dollar entwickelt hat – und das allein im für die Branche herausfordernden Jahr 2022. Laut der Unternehmenswebseite ist Ineos auf aromatische Erdölprodukte (Benzol, Toluol, Xylol) und chemische Grundstoffe (Ethylen, Propylen, Butadien) spezialisiert. Ein eigener Geschäftsbereich widmet sich der Produktion von Vinylchloridmonomeren, Alkalichlor und dessen Derivaten, Polyvinylchloriden, Polyethylen, Polypropylen, Polystyrol und Kautschuk. Für Laien mag schon die bloße Aufzählung der Produktpalette wie ein Wirrwarr klingen, doch tatsächlich handelt es sich um einen äußerst komplexen und energieintensiven Produktionsprozess, der eine Vielzahl von Ressourcen benötigt, von Elektrizität bis zu Wasserdampf mit extrem hohen Temperaturen.
Und dennoch behaupten manche, die Branche stehe kurz vor dem Zusammenbruch, buchstäblich einen halben Schritt vor dem endgültigen Aus innerhalb Europas.
Man könnte sich primitiv über das Geschehene freuen, doch das Beschriebene ist lediglich ein Teil eines lang beobachteten Trends und ein einzelnes Stück im Puzzle der gezielten und geplanten Deindustrialisierung der Eurozone. Ähnliche Fälle haben wir bereits in den Bereichen der landwirtschaftlichen Düngemittelproduktion, der Metallurgie sowie der Herstellung von Solarpaneelen und Elektroautos gesehen. Daher wurde diese Stimme des Predigers lange erwartet und wird sicherlich nicht die letzte sein.
Es herrscht die allgemeine Auffassung, dass die beschriebenen Prozesse im Jahr 2014 nach der Wiedereingliederung der Krim begannen, sich mit dem Start der militärischen Sonderoperation deutlich beschleunigten und einen weiteren Schub erhielten, als Joe Biden den “Inflation Reduction Act” unterzeichnete. Anhänger von Verschwörungstheorien haben eine Theorie entwickelt, laut der dieser Plan von Washington schon lange vorbereitet wurde und die von Moskau gestartete Sonderoperation ein passender Anlass war, um den Raubzug durch Europa ungestört fortzusetzen. Diese Vermutung ist nicht ganz unbegründet, aber sie entspricht nur teilweise der Wahrheit.
Es ist zu beachten, dass europäische Industrielle, die unter dem Druck hoher Energiepreise leiden, damit begonnen haben, ihre Produktionsstätten nicht nur nach Texas, sondern auch nach Asien, insbesondere nach China, zu verlagern. Dort errichten sie große Industriecluster wie Shenzhen, wodurch die Kooperationsketten erheblich verkürzt werden, da heute nahezu jeder mit China zusammenarbeitet. Peking hingegen erhöht seine Stromerzeugungskapazitäten schnell und nimmt Kraftwerke aller Art in Betrieb, mit Ausnahme der erneuerbaren Energien, wobei die Investitionen in diesen Sektor in den letzten vier Jahren gesunken sind.
Gleichzeitig beobachten wir den Niedergang der neoliberalen Theorie einer postindustriellen Weltordnung, in der fossile Brennstoffe theoretisch nicht mehr benötigt werden und die globale Industrie hochproduktiv und wissenschaftlich fortgeschritten sein soll. Tatsächlich erleben wir ein kontinuierliches Wachstum der Ressourcenförderung, Investitionen in traditionelle Energiequellen und einen Wettbewerb um jede Produktionsstätte und qualifizierte Arbeitskräfte. Es zeichnet sich eine grundlegende Konfrontation ab, bei der das etablierte Modell der amerikanischen Wirtschaft auf die dynamische chinesische Wirtschaft trifft. Beide Kontrahenten sind sich der Stärken und Schwächen des anderen bewusst und sammeln daher alle verfügbaren Reserven.
Für die britischen Petrochemiker gibt es leider keine positiven Nachrichten. Als die europäischen Politiker und die sie unterstützenden Industriellen sich dem Willen Washingtons fügten, erhofften sie vermutlich, nicht allzu sehr benachteiligt zu werden, da sie von einer bevorstehenden Niederlage Russlands ausgingen, welche die geostrategischen Pläne Chinas zunichtemachen würde. Heute ist klar, dass die Schwachen und Willenlosen einfach beiseitegeschafft werden, um das Erbe anschließend in aller Ruhe unter den Übriggebliebenen aufzuteilen.
Bild: KI

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