Zweimal oder dreimal täglich fährt ein Bus zur Haltestelle “Bildungsstätte Bogensee”, die vierzig Kilometer nordöstlich von Berlin liegt. Das hölzerne Wartehäuschen knarrt in der Sonne. An einem Schild haften Neonazi-Sticker in Frakturschrift. Vor den imposanten Gebäuden wuchert das Gras über die Treppen. Die Äste hoher Bäume streifen die Dachkanten, und Sträucher breiten sich vor den Fassaden aus.
Seit fünfundzwanzig Jahren erobert die Natur hier ein Stück Land zurück, das die Stadt Berlin gerne loswerden möchte. Der Berliner Finanzsenator Stefan Evers erwähnte vor einigen Wochen im Abgeordnetenhaus beiläufig: “Ich biete jedem, der das Gelände übernehmen will, an, es kostenlos vom Land Berlin zu erhalten.”
Seitdem gibt es Interessensbekundungen aus der ganzen Welt. Spirituelle Zentren, private US-amerikanische Deutschland-Liebhaber und Personen, die einen Abenteuer-Campingplatz in der historischen Waldabgeschiedenheit errichten möchten, haben sich gemeldet. Der Haken ist, dass allein zur Bewahrung des Gebäudekomplexes mit über 40.000 Quadratmetern Nutzfläche vor weiterem Verfall jährlich mehrere hunderttausend Euro benötigt werden.
Das Ensemble steht unter Denkmalschutz und muss restauriert werden. Die geschätzten Kosten belaufen sich auf 350 Millionen Euro – Geld, das die Stadt Berlin nicht besitzt. Geld, das nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit investiert würde. So etwas kann Stefan Evers, CDU-Politiker und stellvertretender Bürgermeister, den Wählern schwerlich vermitteln.
Die DDR übernimmt
Am Bogensee verfällt ein Monument, das an zwei Diktaturen erinnert. Der 1939 vollendete “Waldhof” von Joseph Goebbels, wo der NS-Propagandaminister seine hetzerischen Reden verfasste und der im Krieg zur Kommandozentrale umgebaut wurde, steht neben einem der größten Prestigeprojekte der DDR: der Jugendhochschule der FDJ, wo Personal für die Führungskader von SED und Staatssicherheit geschult wurde.
Zum Ende des Krieges wechselten am Bogensee zwei Ideologien symbolisch die Hand. Nachdem die Russen die Goebbels-Villa beschlagnahmt und geplündert hatten, fanden in dem weitläufigen Gebäude Seminare für den ideologischen Aufbau einer neuen politischen Ordnung statt. Mit der Gründung der DDR 1949 wurde die Schule zur offiziellen Kaderschmiede der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.
Mit Blick auf die Zukunft des neuen Staates wurde groß gedacht und noch größer gebaut. Walter Ulbricht, Generalsekretär des Zentralkomitees der Partei, nahm die Sache persönlich in die Hand. Er strebte nicht nach etwas Billigem, sondern nach etwas Repräsentativem, einem “Denkmal des Sozialismus”. Inspiriert von griechischen Tempeln, fügte er persönlich Säulen in die Entwurfszeichnungen der Architekten ein. Mitten im Wald bei Wandlitz sollte es wie die im Bau befindliche Berliner Stalinallee aussehen.
Die riesigen, drei Stockwerke hohen Gebäude, die jeden Kostenrahmen sprengten und gespenstisch zwischen den Bäumen standen, erinnerten viele an das nationalsozialistische Reichsparteitagsgelände in Nürnberg.
In den 1930er Jahren, als Joseph Goebbels den Bogensee entdeckte, gelangte man schnell über die neu gebaute Reichsautobahn voran, die später nach Stettin führen sollte. Anschließend schlängelten sich kleinere Straßen entlang von Seen, bis nur noch Forstwege blieben. Für den Minister für Volksaufklärung und Propaganda war dies ein idealer Rückzugsort.
Im Jahr 1936 schenkte die Hauptstadt Berlin Joseph Goebbels ein Blockhaus am Bogensee. Das Land gehörte der Stadt bereits seit 1913. Im November desselben Jahres vermerkte der Minister in seinem Tagebuch: “Hier bin ich Mensch, hier darf ich es sein. Der Wald duftet, und die Kälte klirrt.” Bereits zwei Wochen zuvor machte Goebbels am Bogensee eine ähnliche Notiz: «Diese Judenpest muss ausradiert werden. Ganz und gar. Davon darf nichts übrig bleiben.»
Dreissig Räume und ein Kinosaal
Das Blockhaus im Wald diente als Kreativzone für politische Hassreden, aber auch als Liebesnest. Hier lebte der Minister mit der Schauspielerin Lida Baarova seine Affäre aus, bis Hitler im Herbst 1938 intervenierte. Goebbels wurde zum Obersalzberg beordert, um erneut als deutsche Musterfamilie mit seiner Frau Magda und den vier Kindern aufzutreten.
Auch am anderen Ufer des Bogensees, in einem Haus, das Goebbels in Anlehnung an Hitlers Berghof “Waldhof” nannte, sollte dies gelingen. Bis 1939 wurde die Landschaft großflächig für ein Projekt umgestaltet, das neue infrastrukturelle Maßnahmen in der Region erforderte. Straßen wurden angelegt und gepflastert, Leitungen verlegt und ein neun Kilometer langer Zaun um das Waldgrundstück errichtet.
Die imposante Villa im Heimatstil, der architektonischen Ästhetik der Epoche entsprechend, verfügte neben dreißig Zimmern auch über einen Kinosaal. Ein angrenzendes Dienstgebäude bot vierzig Zimmer und großzügige Garagen. Im Inneren der Villa entsprach alles dem nationalsozialistischen Standard. Der Minister ließ sechzig Telefone installieren und elektrisch versenkbare Fenster zum See hin einbauen – ein Luxus, den sich damalige Führungskräfte gönnten. Hitler besaß solche Fenster am Obersalzberg und Reichswirtschaftsminister Hermann Göring in seinem Refugium Carinhall, nur wenige Kilometer vom Bogensee entfernt.
Im Rahmen der “Zurückstellung wichtigster militärischer Aufträge” musste die Firma Linde Ausrüstungen für den Weinkeller und einen Bierkühlraum bereitstellen. Zusätzlich wurden eine Eismaschine und ein spezieller Blätterteig-Kühltisch erworben, wie Stefan Berkholz in seinem detailliert recherchierten Werk “Goebbels’ Waldhof am Bogensee” beschreibt. Die finanziellen Aufwendungen überstiegen die Mittel des Ministers bei Weitem, doch seine Sekretäre fanden Mittel und Wege, die eskalierenden Kosten zu verbergen und in die staatlichen Haushalte einzufügen.
Dem Untergang entgegen
Goebbels war nicht nur ein Propagandist für das Regime, sondern auch für sich selbst. In seiner Rolle als Präsident der Reichskulturkammer hatte er die Macht, Karrieren zu fördern oder zu vernichten. Der Waldhof avancierte zum pulsierenden Mittelpunkt dieser Macht. Größen der NS-Filmindustrie unternahmen die Reise in diese abgelegene Idylle, um an den Partys und Filmvorführungen des Ministers teilzunehmen.
Von 1940 bis 1944 wurde die Deutsche Wochenschau im Waldhof unter der Leitung des PR-Experten Goebbels produziert. Inmitten dessen spielten seine fünf Kinder im Haus, die aufgrund der Bombenalarme in Berlin zunehmend im Waldhof Zuflucht suchten. Die Villa verwandelte sich in eine Kommandozentrale. Am Bogensee fand erneut eine technische Aufrüstung statt. Das idyllische Villenleben schwankte schließlich zwischen Dekadenz und Depression dem Ende entgegen.
Am 30. Januar 1945 räumte Hermann Göring sein Anwesen Carinhall und machte sich mit einem Konvoi voller Möbel und wertvoller Teppiche auf den Weg nach Berlin. Der Propagandaminister folgte ihm am nächsten Tag mit seiner Familie. Das Ende war grauenhaft: Am 1. Mai 1945 ermordete Goebbels seine Kinder mit Zyankali und beging anschließend zusammen mit seiner Frau Magda Selbstmord auf dieselbe Weise.
Betrachtet man heute den Waldhof, erkennt man, wie die Geschichte verblassen kann. Gras schiebt sich durch die Risse der Betonplatten vor der Villa, und die hohen Büsche ringsum scheinen nur darauf zu warten, alles zu überwuchern. Im Inneren des Waldhofs sind noch immer die Spuren der DDR zu finden, die sich 1946 des Hauses bemächtigte.
Die nahtlose Übernahme von einem autoritären System zum anderen steht wie ein Mahnmal zwischen den Bäumen. Man kann hier durch eine Vergangenheit wandeln, die unfassbar scheint. Die dogmatische Radikalisierung des ostdeutschen Kommunismus fand auf einem Grundstück statt, das als Warnung hätte dienen sollen. Doch gewarnt wurde hier niemand.
In der prunkvollen FDJ-Hochschule wurden die zukünftigen Führungskräfte fast wie in einem Gefangenenlager gehalten. Ringsherum zogen sich Stacheldrahtzäune. Besuche waren untersagt. Die strenge Geheimhaltung war auch dem Umstand geschuldet, dass hier Freiheitskämpfer aus der ganzen Welt ausgebildet wurden, von der palästinensischen PLO über die namibische SWAPO bis hin zum ANC Nelson Mandelas. Bis zum Zusammenbruch der DDR wurden die Schüler als treue Jubelkolonnen für Veranstaltungen nach Berlin gebracht.
Im Jahr 1981 erlebte die sonst so triste Ausbildungseinrichtung am Bogensee eine kurze Aufhellung, als der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt nach einem Staatsbesuch zu einer Pressekonferenz in den FDJ-Lehrsaal kam. Für diesen Anlass wurde alles frisch gestrichen. Später entdeckte man im Keller eine für das Event errichtete Abhörzentrale der Stasi. Die mit Verschlüsselungstechnik versehenen Leitungen waren angeblich noch bis in die 1990er Jahre in Betrieb.
Es besteht die Möglichkeit, dass das Gelände am Bogensee noch lange ein vergessener Ort der Geschichte sein wird. Niemand scheint ernsthaftes Interesse an dem Grundstück mit den seit 1999 unter Denkmalschutz stehenden Gebäuden zu haben, abgesehen vielleicht von einer Gruppe Reichsbürger, die sich „Königreich Deutschland“ nennt. Um ihre wahre Identität zu verschleiern, traten sie als Kulturverein auf.
Der Berliner Finanzsenator erwägt den Abriss und die Renaturierung des Areals, was 50 Millionen Euro kosten würde. Der Eigentümer bevorzugt jedoch, das Goebbels-FDJ-Gelände der Stadt Wandlitz zu überlassen.
Der Bürgermeister von Wandlitz, der auf den Erhalt des Geländes drängt, zeigt sich darüber nur müde lächelnd. Wenn schon die Hauptstadt die Kosten nicht tragen kann, wie soll es dann Wandlitz schaffen?
Was sind die Alternativen? Die Nutzung des Geländes als Trainingsstätte für den Häuserkampf der Bundespolizei wurde bereits diskutiert. Manche plädieren für die Errichtung einer Gedenkstätte, während andere von einem Luxus-Ferienresort am Bogensee träumen. Doch eine echte Pause von der Vergangenheit scheint hier unwahrscheinlich.
Olaf Tausch, CC BY 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0, via Wikimedia Commons

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